User:HaltlosePersonalityDisorder/sandbox
Cry "Havoc" and let slip the dogs of war.
— Mark Antony, in William Shakespeare, Julius Caesar, act III, scene I
a) Die Gemutlosen und Gemutsarmen.
M. H.! Nur in einem kurzen Abschnitt der fruhen Kindheit sind wir
der Unmittelbarkeit und Echtheit der AuBerungen des Gemutslebens
unbedingt gewiB. Wir sprachen fruher ausfuhrlich daruber, daB Beeintrachtigung der Naivitat und Eindringen des Unechten in Affekte, Ge·
fuhle und Stimmungen schon sehr bald erfolgen kann. V6llige Unabhangigkeit von auBeren Einwirkungen, von Steilungnahmen und Erfahrungen kann sich selbstverstandlich bei keinem geistig lebhaften
Kinde auf die Dauer erhalten, auch wenn die Umgebung die Ursprunglichkeit des kindlichen Erlebens m6glichst unangetastet laBt. Ihrem
Wesen nach sind mer Naivitat und Echtheit qualitative Bestimmtheiten
eines Gemutsvorganges oder seiner AuBerung. Es kann neben Naivem
Unnaives, neben Echtem Unechtes auftreten, es kann also ein Gemisch
entstehen; es kann aber eine Ichzustandlichkeit nicht schwach naiv oder
stark echt, d. h. gradweise in diesem Sinne abgestuft sein. Andere Bestimmtheiten der Gefuhle, hier auch im Sinne von Affekten und Stimmungen gemeint, namlich ihre Warme, Fuile und Tiefe, und der Reichtum an ihnen sind quantitativer Abwandlung fahig, sowohl in dem
Die typologische Bedeutung der Gemutsveranlagung. 325
Sinne, daB bestimmte Gefuhle eine groBere Warme, Fulle, Tiefe, Kraft
und Nachhaltigkeit haben als andere, als auch in dem zweiten, daB bei
verschiedenen Individuen diese Eigenschaften der Gefuhle gradweise
verschieden und der Reichtum an Gefuhlen im ganzen verschieden
groB ist.
Aus diesen Eigenschaften der Gefuhle selbst geht hervor, daB von
den Gemutsreichen zu den Gemutlosen eine groBe Zahl von Abwandlungen und Abstufungen hinfuhren wird, die in ihrer Unerschopflichkeit
zu anschaulicher Darstellung nicht gebracht werden konnen. Die Zahl
der Spielarten wird dadurch ins Unendliche vermehrt, daB die samtlichen von unserer Sprache unterschiedenen Gefuhle naiv und echt,
unnaiv und unecht sein konnen. Denn wir kennen z. B. eine naive
Eitelkeit, eine naive und echte Gute, einen unechten Zorn, eine naive
Grausamkeit und eine hochst unnaive Liebenswurdigkeit. Eine echte
Gute kann immerhin kraftlos, ein Mitleid echt aber ohne Nachhaltigkeit,
eine Entrustung auBerst heftig aber unecht, eine Beteuerung unter
Tranen durchaus erlogen sein. Der weiteren Erorterungen dieser Abstufungen und J\luschgebilde wollen wir uns nicht widmen. Sie gehoren
den Individuen als Zuge ihres personlichen Wesens zu, besitzen aber
nicht die geschlossene Ausrichtung, die innere Verbundenheit, welche
in dem Extrem typenbildende Form gewinnt. Dieses Extrem sind die
Gemutlosen. Sie sind nicht ein theoretisches Extrem, sondern eine
Wirklichkeit auBerster Entartung oder MiBgestaltung des Gemutslebens,
die als solche selbstverstandlich auch "ieder ihre individuellen Unterschiede hervorbringt.
Sagen wir von einem Menschen, er habe Gemut, so meinen wir in
dieser allgemeinen Rede, daB die Gemutsseite eine bestimmende Seite
seines Wesens in der Art sei, daB er des Fuhlens und Mitfuhlens und
zwar im Sinne des vollen Erlebens fahig sei, und daB dieses voll erlebte
Fuhlen seine EntschlieBungen und sein Randeln wesentlich bestimme.
Wir meinen aber nicht, daB er ein Affektmensch oder ein Stimmungsmensch, auch nicht daB Erregbarkeit oder Verstimmbarkeit ihm uberhaupt eigen sei; wir erkennen seinen Gefuhlen aber Warme, Fulle,
motivbildende Kraft und Echtheit zu. Indem wir Fuhlen und Mitfuhlen
zusammenordnen, drucken wir aus, daB die Sympathiegefuhle und die
Fahigkeit, sich in fremde Gefuhlserlebnisse einzmuhlen, zur Norm geboren.
Wenn mit der Entwicklung des IchbewuBtseins Stellungnahmen und
Willenshandlungen sich von Trieb und Instinkt losen, erkennen wir
fruhkindliche Gefuhlserlebnisse an mimischen AuBerungen und Gebarden.
Freude in Blick und Lacheln, Jauchzen, Verlangen nach Zartlichkeitsempfang und -erweisung, sehnliches Erwarten, Ausdruck der Befriedigung
uber die Erfullung von Wunschen, spaterhin Dankbarkeit, Gebefreudigkeit, Zartheit, Rucksicht, Zuneigung gegenuber Eltern, Geschwistern
und anderen Kindern sind Merkmale einer gesunden Empfanglichkeit
und Regsamkeit des Gemutes, deren Auftreten in der unscheinbaren
Kleinwelt des Kindes durch die geringe Tragweite des Einzelaktes
nichts an Bedeutung verliert. In allen derartigen AuBerungen offenbart
326 Die Gemutlosen und Gemutsarmen.
sich im Kinde Teilnahme, Zuganglichkeit und Umganglichkeit also
grundlegende Eigenschaften sozialer und ethischer Art von allergroBter
Tragweite und entscheidender Bedeutung. Wir sehen dabei noch ganz
ab von del' Grundstimmung, die wenn sie heiter, und von dem Temperament, das, wenn es lebhaft ist, dem Kinde selbst das Leben auBerordentlich erleichtert und bereichert.
Vermissen wir bei einem Kinde die in del' ersten Reihe genannten
primitiven und die ferner aufgefuhrten schon komplexeren Bekundungen
von Sympathiegefuhlen, so wird uns, haben wir oft genug vergeblich
versucht sie zu erwecken, mit Recht ernster Zweifel an seiner normalen
Artung aufsteigen. Brechen an ihrer Stelle entgegengesetzte AuBerungen
durch, Zerstorungswut, Angriffslust, Schlagen, Kratzen, heftige Gegenwehr und Ablehnung jeglicher Art, verbinden sie sich mit Unempfanglichkeit und KlUte, so wird die Frage aufzuwerfen sein, ob diese ge.
mutliche Abnormitat eine Teilerscheinung eines schweren angeborener
Schwachsinnes ist, oder ob ihr neben einer durchschnittlichen bzw. nicht
schwer geschadigten Intelligenz selbstandiger Charakter zukommt. Sich
fur den ersten Fall zu entscheiden, besteht im allgemeinen eine groBe
Neigung, welche dem Vorurteil entstammt, daB eine Gemutsarmut odeI'
-leere und eine gemutliche Unregsamkeit verbunden mit hochgradiger
Reizbarkeit nul' die Folge einer ldiotie sein konne. Ein im Grunde
rationalistisch-moralisierendes Widerstreben gegen die Annahme del'
UnbeeinfluBbarkeit des Gemutes durch Wissen und formale Einsicht
schiebt hier den sonst so bereitwillig anerkannten Primat del' Affektivitat
VOl' dem Intellekt beiseite.
Wir scheiden also den Schwachsinnigen, del' zugleich reizbar und
sozial vOllig unfahig ist von dem Gemutlosen, del' eine durchschnittliche
odeI' uberdurchschnittliche, jedenfalls eine nicht unterdurchschnittliche
intellektuelle Befahigung besitzt. Man hat diese Falle fruher mit vielen
im Grunde andel's gearteten unter dem Namen moral insanity zusammengefaBt. Nach ihrer Auswirkung sind sie von KRAEPELIN neuerdings del' Gruppe del' Gesellschaftsfeinde zugerechnet worden.
Als psychologische Grundmerkmale hatten wir bereits das negative
del' fehlenden odeI' verkummerten Sympathiegefuhle und das positive.
del' feindseligen Einstellwlgen kennen gelernt. Mitleidlosigkeit ist yon
jeher als ein schwerwiegender Mangel beim Kinde gewertet worden,
obgleich man es gern schlechthin als grausam bezeichnete. Damit
meinte man abel' nicbt dauernde Eigenschaften des Gemuts, sondern
die durch den Mangel an Verstandnis wId Erfahrung bedingte, durch
deren Zunahme spaterhin uberWWldene Hemmungslosigkeit kindlicher
Affekthandlungen und Triebe. Das gemutlose Kind qualt Tiere mit
Lust und tut es immer wieder trotz Belehrung, und obwohl man ihm
selbst Schmerz zufugt, um ibm den Schmerz des Tieres durch den
eigenen fuhlbar zu machen. Es zerstort sein Spielzeug nicht aus dem
eindringlichen Verlangen zu sehen "wie es von innen aussieht", sondern
aus einem Zerstorungs- und Vernichtungsdrang, del' die mannigfachsten
Gegenstande wahllos ergreift und andererseits mit Absicht gerade diejenigen, die einem anderen lieb sind, und deren Verlust ihm Leid be-
Merkmale der Gemutsarmut beim Kinde. 327
reitet. DieZufugung korperlichen Schmerzes ist nicht immer, aber oft
genug damit verbunden und zwar in einer "W"eise, die sich weder aus
einer unschuldigen Neckerei entwickelt noch uberhaupt einen spielerischen Zug zeigt. Erweisen sich solche Neigungen als erzieherisch unbeeinfluBbar, so sind sie schon in der fruhen Kindheit, darin bin ich
mit W. STERN durchaus einer Meinung, geeignet, den ernstesten Verdacht auf pathologische Gemutlosigkeit zu begrunden. Mit dem Hinweis
auf die polymorphe Perversitat im Sinne der FREUDschen Schule vollzieht man hochstens eine Einordnung unter einen verabsolutierten
Gesichtspunkt, gelangt aber nicht zu der richtigen Einschatzung im
Rahmen der Gesamtanlage.
Der Egoismus, der nicht das dem anderen Wertvolle vernichtet,
sondern es selbst zu besitzen und jenem wegzunehmen trachtet, kann
schlankweg brutal sein und jeder Begrundung sich enthoben erachten
oder er kann sich einer Scheiurechtfertigung bedienen, fUr die eine Allgemeingultigkeit gar zu gern behauptet werden mochte. Das Kind sagt
zu seinem Gespielen, indem es nach seinem Rechen greift: "Das brauchst
Du nicht, das brauch' ich", woraus spater mit einem Zusatz hohnischer
Kaltblutigkeit die Formel sich entwickelt: "Das kann ich besser gebrauchen als Du". W ehrt sich das andere Kind, so beginnt der von N eid
und MiBgunst geschurte Kampf, in dem der begehrte Gegenstand lieber
zerbrochen und zertreten als dem rechtmaBigen Besitzer gelassen wird.
Der Kampf gilt besonders dem Schwacheren; vor dem Uberlegenen wird
feige zuruckgewichen, er wird gehaBt und uberlistet.
Von verbluffender Raffiniertheit sind die Krankungen mit Worten,
die Verspottungen und Schmahungen, Beschimpfungen und Beleidigungen, die ein gemutloses Kind aufgreift und im Gedachtnis bewahrt,
um sie im Zorn oder im kalten HaB wie vergiftete Pfeile gegen andere
Kinder aber auch gegen Erwachsene zu schleudern. Es ist manchmal
so vollig unerfindlich, von wem ein solches Kind dergleichen W orte und
Redensarten gehort hat, daB man zu der Annahme gezwungen ist, es
habe sie aus sich selbst. Hierfur spricht auch die ins Rohe ausschweifende
Phantasie, die sich in Bildern von Rache bis zum blindwutigen Geschrei
austobt: "lch mochte ihm die Augen auskratzen und fun treten und ganz
kaputt machen."
Eigentliche Streitsucht scheint als Freude am Zanken weniger vorzukommen wie als Folge der Unfahigkeit des Sichvertragens, des Fehlens
aller gefuhlsmaBigen Gemeinsamkeiten, des AnschluBbedurfnisses, der
Mitfreude in der Teilnahme, der Zuneigung. Beziehungen zu anderen
Menschen, wie zuKindernso zu Erwachsenen, sind einfach nicht herstellbar; Gleichgultigkeit, wenn nicht von vorriherein aktive Ablehnung, begegnet jedem Annaherungsversuch. Es ist mit diesen Kindern "nichts
anzufangen", weil die spezifischen Angriffspunkte fehlen. Sie sind
respektlos und bar jeden Gefuhls fur Gesittung.
Die Grundstimmung ist meist freudlos und kalt; sie pragt sich im
Gesichtsausdruck, besonders in Blick und Mund aus; man ist an ein
hOses Tier erinnert, fuhlt Tucke und Hamischkeit durch und fuhlt sich
selbst abgestoBen. Noch peinlicher als bei Knaben beruhrt diese Ab-
328 Die Gemutlosen und Gemutsarmen.
artung bei Madchen. Es ist schon nicht unbedenklich, wenn ein Madchen gar keine Phatansie im Spiel mit Puppen hat; wenn es sie aber
wegwirft, jeder neuen Puppe sofort die Haare ausreiBt und das Spielen
mit Puppen uberhaupt dauernd ablehnt, so dad hierin ein Hinweis
auf Gemutsarmut gesehen werden; jedoch darf man nicht schlieBen,
daB eine Perversitat im Sinne der Gleichgeschlechtlichkeit vorliege,
denn diese verbindet sich mit ausgesprochenen Zuneigungsgefuhlen zu
Madchen, die hier fehlen wie jegliche Sympathiebekundung. Manchmal entwickelt sich spater ein sparlicher und kummerlicher Sinn in der
Hichtung des Normalen.
Die Entwicklung der Krafte und spater die Vermehrung des Wissens
macht den Gemutlosen in wachsendem MaBe gefahrlich. Nun wird mit
Steinen geworfen, mit eisernen Werkzeugen draufgeschlagen, auch auf
die Eltern mit Messer und Scheere, mit Beu und Holzscheit losgegangen,
in Hauser eingestiegen und gestohlen, Mauern werden erklettert, Vogelnester ausgehoben, Schranke und Behaltnisse erbrochen; in der W ohnung
wird in Abwesenheit der Eltern alles durcheinandergeworfen, Schmutzereien werden angerichtet, Speisen, die nicht sofort verschlungen werden
konnen, weggeschuttet oder ungenieBbar gemacht, die guten Kleider
der Angehorigen verdorben oder zerschnitten. Das Nachdenken dient
dem Planen neuer Untaten und dem Ersinnen von Lugen und Betrugereien. In der Schule sind diese Kinder nicht nur wie Unruhige storend,
sondern einfach unertraglich in jeglichem Sinne. Prugelnutzen manchmal vorubergehend; sie sind letzlich selbst dann unwirksam, wenn sie
gefurchtet werden; der Hunger ist fur die zumeist sehr gefraBigen gemutlosen Kinder die weit mehr als Prugel gefurchtete Strafe, die nachste
Sattigung macht ihn aber vergessen.
Es gibt fur den Gemutlosen wohl ein Wissen von dem, was geboten
und verboten, gern und nicht gern gesehen, strafbar und erlaubt, recht
und unrecht ist, wie es ihm wohl bekannt ist, wodurch man Freude und
Kummer, Sorge und VerdruB bereitet. Es entwickelt sich aber weder
ejn "Sinn" fur Hecht und Buligkeit, noch fur Hucksicht und tutige Gute.
Moralisches Wissen ist eben kein moralisches Fuhlen; darum kann man
uber die Gefuhlswelt eines Kindes nie ein Urteil aus seinen Kenntnissen
dieser Erlebnisweisen und Handlungen gewinnen. Ethisches und soziales
'Verterleben, Sympathiegefuhle und ihre Auswirkungen in der Budung
von Motivzusammenhangen und -entscheidungen konnen nur aus
Handlungen und Verhaltensweisen und aus dem unmittelbaren Ausdruck
der Gemtusbewegungen auf dem Wege der Tatsachensammlung und der
Menschenkenntnis einem Anderen zur GewiBheit werden. Darum sind
bedeutsamer als Erkundungen von Moralbegriffen und Befragungen,
warum man dies tun, jenes lassen soIl, oder warum eine Handlung verwedlicher ist als die andere, Feststellungen der Unfahigkeit zur Heue,
zur wirksamen Besinnung uber das eigene Handeln und seine Folgen,
zu einer echten Erschutterung des Gemuts durch Betrubnis und Trauer,
zu seiner Belebung und Besonnung durch Freude, Scherz und Spiel.
Der kleinste Zug freiwilligen Gehorsams, kameradschaftlicher Zuneigung, die bescheidenste Hegung kindlicher Zutraulichkeit, ge-
Wissen und Raben von gemutlichen Regungen. 329
schwisterlicher Liebe wird mit einem gewissen Recht als ein Hoffnungszeichen in der Wuste der gemutlichen Leere und Unfruchtbarkeit gewertet, als ein m6glicher Angriffspunkt menschlicher EinfluBnahme.
Freilich folgt in der Regel bald genug die Enttauschung durch irgendeinen ganz unerwarteten Akt kalter Eigensucht.
Die Intelligenz dieser Faile wird, wie gesagt, meist nicht wesentlich vom
Durchschnitt abweichend gefunden; die Gleichgultigkeit gegen jedes
Streben, die Uninteressiertheit am Wettbewerb, die grobe, plumpe
Faulheit halt die Entwicklung der geistigen Fahigkeiten vielfach
unter der Stufe des an sich Erreichbaren.
In der weiteren Entwicklung werden die Gemutlosen immer schwieriger, in der Pubertat haufen sich die Ausschreitungen auch im Sinne
eines zugeilosen Geschlechtstriebes; hemmungslose Masturbation ist
sehr haufig, die Neigung dazu geht nicht selten in fruhere Kinderjahre
zuruck. Das weitere Leben ist das des unverbesserlichen Krimineilen.
Einer meiner FaIle wurde als lSjahriger in die Fremdenlegion verschleppt und soil dort erschlagen worden sein.
In dieser auBersten Pragung sind die Gemutlosen nur als seelische
MiBbildungen schwerer Art einzuordnen, deren Leben sich nicht anders
als jenseits der menschlichen Gesellschaft und im Kampfe mit ihr voilziehen kann, der schlieBlich mit der Ausschaltung aus ihr, sei es in der
Fursorgeerziehungsanstalt, sei es im Zuchthause, oder in dem festen
Hause einer Irrenanstalt endigt. Die im 2. und 3. Lebensjahrzehnt zunehmende Reizbarkeit und Gewalttatigkeit fuhrt zu Erregungszustanden bei ZusammenstOBen mit der 6ffentlichen Ordnung, die krankhafte
Grade ha ben und zur ersten Aufnahme in eine Irrenanstalt fUhren k6nnen.
Es liegt durchaus im Interesse der menschlichen Gesellschaft im Allgemeinen wie der Familie des Einzelnen, daB die schweren FaIle m6glichst
bald der Anstaltserziehung und -verwahrung zugefuhrt werden. Sie zerst6ren jegliche Glucksm6glichkeit der Angeh6rigen, reiben ihre Krafte
in dauernder Erregung und zwecklosem Kampfe auf.
Nicht aIle Faile sind dermaBen schwer, nicht aIle erscheinen von
vornherein so ganz einseitig abnorm. 1st der extreme Fall in seiner
Einseitigkeit verstandlich, so sind die minder schweren Faile gerade in
der Art ihrer Widerspruchlichkeit fur den Laien "ein Problem". Wenn
neben Roheit und TierquaIerei, ganz unvereinbar mit ihren abstoBenden AuBerungen, eine Liebe zu Pflanzen und eine wenn auch nur formale
und oberflachliche Empfanglichkeit fur Musik im Sinne des gerne Horens,
des Angezogenwerdens wahrgenommen wird, so ist dies eben eine Spielart, aber keine Angelegenheit der verstehenden Psychologie, es ist eine
anlagemaBig gegebene Verknupfung, die hinzunehmen ist wie das V orkommen schwarzen Haupthaares, roten Bartes und blauer Augen. Ein
solches Zusammentreffen von Zugen, die begrifflich einander auszuschlieBen scheinen, bedeutet durchaus nicht immer eine psychologische
Unmoglichkeit. Denn Weichheit und Kraftlosigkeit in selbstischer
R,ichtung ist mit einem gefuhilosen, sozial-anethischen Wesen sehr wohl
zusammenzudenken. In diese Reihe gehort das Auftreten sentimentaler
Regungen, die Neigung zu hypochondrischer Selbstbeobachtung, die
330 Die Gemutlosen und Gemutsarmen.
Angst VOl' Krankheit, VOl' korperlichem Schmerz und VOl' dem Sterben.
Diese Durchmischung mit Zugen del' Schwache, del' Feigheit, del' Angst,
del' unechten Weichheit bringt die Moglichkeit pathologischer Reaktionen mit sich, z. B. des GANsERschen Dammerzustandes und anderer
Haftpsychosen, wie leichtverstandlich auch die Neigung zur Vortauschung von Krankheiten. Manche schweren Disharmonien mit asozialen
Tendenzen liegen auf diesel' Linie. Auch paranoide Reaktionen, die auf
dem Hineinsteigern in die Vorstellung erlittenen Unrechts beruhen und
genau bes(lhen einem hysterischen Mechanismus ihre Entstehung
verdanken, werden schon bei Kindern, wenn sie einer harten Strafe von
langerer Dauer, wie Einsperren bei knapper Kost durch den Vater unterzogen werden, beobachtet. Man sieht in solchen Fallen schon deutlich
die Beziehung zu den asozialen Hysterischen und zur Gruppe del' Haltlosen. Verbindet sich namlich die Gemutsarmut mit einem auch nut
geringen Grade von AnschluBfahigkeit, so werden Beziehungen immer
gerade zu den Elementen aufgenommen, die gleich odeI' ahnlich geartet,
jedenfalls abel' auf die Gesamthaltung von ungunstigem EinfluB sind.
In del' Fursorgeerziehungsanstalt sieht man manchmal nach anfanglichen Auflehnungsversuchen eine gewisseFugsamkeit, die bis zur scheinbar guten Fuhrung gehen kann. Optimistische Anstaltsleiter lassen
sich wohl auch tauschen und zur Entlassung und zu einer dem fruheren
Gutachter widersprechenden gunstigen Beurteilung bestimmen, die
in del' Freiheit allerdings sehr bald zuschanden wird.
Als Zwischenglied zwischen del' Norm und dem Typus des Gemutlosen kalID man die sog. kalten Verstandesnaturen ansehen.
Es sind dies Veranlagungen, die ohne im eigentlichen Sinne gesellschaftsfeindlich orientiert zu sein, sich nul' von personlichen Interessen, kuhler
Berechnung, harter Konsequenz leiten lassen und keine gemutlichen Bedurfnisse kennen. Von ihnen geht nie Warme aus, niemand fuhlt sich
von ihnen angezogen; im Verkehr mit Menschen kennen sie nur die Unterwerfung und Beherrschung des Anderen. Schon in del' Kindheit sind es
Isolierte, nuchterne Strebel' und Konner mit Neigung zur Gewalttatigkeit
und mit Vorliebe zu rohen Arten des Sportes, wie Boxen, und zur Verrohung von Kampfspielen, Z. B. des FuBballs, mit Zugen des Hochmuts
und del' Freude an del' Zufugung von Krankungen. 1m spateren Leben
konnen sie, wenn sie Zl1cht genug besitzen, um rechtsmaBig zu leben,
unter Umstanden auch Nutzliches und fur die Allgemeinheit Wertvolles leisten, bleiben abel' fur diejenigen, die mit ihnen im engeren
Kreise zu leben haben, schlimme Bedrucker von unnachgiebiger Harte.
KRETSCHMER rechnet sie zur groBen Gruppe del' Schizoiden.
So wenig die extreme Form del' Gemutlosigkeit, die schon in fruher
Kindheit sich manifestiert, zu diagnostischen Schwierigkei~en und
Verwechselungen fuhrt, so leicht sind solche moglich, wenn jede ernstliche Schwererziehbarkeit ohne Analyse ihrer Grunde aus dem Wesen
des Kindes als gleichbedeutend mit del' Gemutlosigkeit in unserem
Sinne angesehen wird. Schwererziehbarkeit ist keine einfache psychologische Eigenschaft, auch keine Typenbezeichnung, sondern die Gesamtheit del' AUSwirkung hochst verschiedener Grundstrukturen gegen-
Beziehungen zu anderen Psychopathentypen. 331
uber den Forderungen der Erziehung. Schwer erziehbar ist auch das
epileptische Kind, rucht infolge einer angeborenen Gemutlosigkeit, sondern einer erworbenen, ebenderepileptischenCharakterveranderung.
Schwer erziehbar ist der Unstete, der Reizbare, der als Abart des hysterischen Reaktionstypus anzusehende Af:£ektepileptiker; sie aIle, die in
der Kindheit und Jugend manche nervose Zeichen darboten, gemutlich
recht schwer zu fassen waren, sind zum groBen Teil entwicklungsfahig
in der Richtung zur Norm; eine nicht unbetrachtliche Zahl kindlicher
und jugendlicher Rechtbrecher, die "nicht horen wollten", fUr Belehrung und Ermahnung unzuganglich waren, besonders die Milieuabhangigen, werden spater sozial und halten sich auch, wenngleich nach
langen und haufigem Straucheln. Mit ihnen geht es ahnlich wie mit
einem Teil der Haltlosen: sie erfahren eine spate Beruhigung und damit
werden sie fahig zur Stetigkeit. Sie haben die bessere Prognose, weil sie
eben keine Gemutlosen waren, sondern nur ais solche verkannt wurden
infolge einer falschen Gleichsetzung der Schwererziehbarkeit verschiedener Genese.
MEGGENDORFER, der unter erbbiologischen Gesichtspunkten Gruppen
solcher falschlich gleichgesetzten, unter "moral insanity" gebuchten
FaIle katamnestisch und familiengeschichtlich durchforschte, hat fUr
die zur Affektepilepsie gehorigen diese Auffassung, wie mir scheint,
beweisend gestutzt. fiber die andere von ihm als Parathymie abgegrenzte Gruppe mit schlechter Prognose sprechen wir im AnschluB an
die Schizophrenie.
Zum Schlusse noch dieses: lJberschatzen Sie nicht Einzelvorkommnisse bei Kindern in ihrer Tragweite. Ein Junge, den es einmal packte,
und der im Zorn auf seine Schwester losging, ist deshalb noch kein
boffnungsloser Rohling; wer eines Verbotes nicht achtend als Kind
sich lieber auflehnte und sich strafen lieB als sich fugte, kann darum
ein tuchtiger Junge und ein guter Sohn werden. Erziehungsunsichere
Eltern bringen uns, selbst nervos und ratIos geworde!l, solche Kinder
mit den schwersten Besorgnissen. Prufen Sie stets ganz vorurteilslos
und eingehend die einzelnen dem Kinde schuldgegebenen Handlungen;
stellen sie dieselben ein in das Familienleben, in die EinfluBspblire, in
die personlichen Gegensatze und Verschiedenheiten und in das Gesamt
del' bisherigen Charakterentwicklung. Es wird Ihnen oft mit besonderer
Betonung mitgeteilt werden, daB der Junge verschlossen, das Madchen
bockig und wortkarg geworden sei. Darunter leiden naturlich Vater
und Mutter, weil sie jeden Zugang versperrt finden. Gerade hier eroffnet sich dem Arzt eine oft sehr dankbare Aufgabe, die WiederaufschlieBung des Kindes, dessen Gemut nicht verhartet ist, wie man befurchtete, das vielmehr in den -verschiedensten von ihm nicht lOsbaren
Konflikten und Verstimmungen, auch solche sexuellen Ursprungs sind
darunter, nicht mehr verstanden, nur noch gescholten wurde und in
seiner Vereinsamung und dem Mangel an Vertrauen und an Mut zu
offener Aussprache oder offenem Bekenntnis sich in sich selbst zuruckzog. Die Ruckfuhrung des Zustandes auf seine Wurzeln, die Aufklarung der Entstehung durch Aufdeckung der Komplexe durch den Arzt,
332 Die Reizbaren und das Problem der kindlichen Reizbarkeit.
der besonnen und geduldig sich um das Vertrauen des Kindes bemuht,
bringt mit Gestandnis und Aussprache oft in schwerer Erschutterung
das Kind zu seiner freien Haltung zuruck und ebnet ihm und den
Eltern den Weg zur Wiederannaherung. Ich sagte, u berschatzen Sie nicht
Einzelvorkommnisse; aber ich fuge hinzu: unterschatzen Sie nicht gemutliche Entfremdungen. Sie k6nnen die Charakterentwicklung aufs
schwerste schadigen, und wenn Sie selbstverstandlich aus einem Kinde
mit durchschnittlicher oder leicht psychopathischer Veranlagung kein
gemutsloses Kind machen k6nnen, so wirken Sie doch verbitternd und
damit feindselige Steilungnahmen erzeugend, verarmend und verodend auf das Gemutsleben des Kindes.
- ^ Homburger, August. "Vorlesungen über Psychopathologie des Kindesalters". Berlin 1926. Pgs 324-332
- ^ Gannushkin, Pyotr,